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… Als die DDR zur deutschen demokratischen Revolution metamorphoste interessierten sich aber auch Journalisten, Philosophen, Ökonomen, Wirtschaftswissenschaftler, Soziologen und Politologen aus der ganzen Welt für die ddR und immer auch für das Leipziger Bürgerkomitee. An meiner Seite hospitierte eine Woche lang von früh bis spät mit großer Aufmerksamkeit ein deutschsprachiger Professor aus Honolulu auf Hawaii. Zugespitzt dargestellt war es so, als würde in Leipzig Karl Marx zu Grabe getragen. Und diese Beerdigung interessierte die ganze polit- und wirtschaftswissenschaftliche Welt. Ich kann meinen damaligen Eindruck nur durch einen Vergleich mit der Zoologie überzeugend schildern. Wenn ein einmaliger exotischer Käfer in der Gefangenschaft lebensgefährlich erkrankt bzw. unter schwierigsten Umständen metamorphost, dann wird sein Krankheitsverlauf unter der Lupe von einer Schar Biologen mit größtem wissenschaftlichen Interesse verfolgt. Eine spannende Zeit für die Biologen und eine problematische Zeit für den Käfer!

Seite 25:
… Auf unseren Wanderungen beachteten wir sehr genau alle staatlichen Verbote bezüglich der Sperrzone im Vorfeld der Grenze zur Bundesrepublik, die der Eisenbahnlinie Saalfeld-Wurzbach-Lobenstein nach Auffassung der SED-Regierung rechtsseitig sehr nahe kam, obwohl der eigentliche Grenzverlauf noch viele Kilometer davon entfernt war. Die exakte Einhaltung aller staatlichen Verbote reichte aber nicht für einen Urlaub von den ständigen Repressalien der stasigestützten SED-Diktatur, denn allein schon ein Fernblick in die Freiheit brachte den Sicherheitsapparat dieser Diktatur auf einer Strecke über ca. 100 km in Alarmbereitschaft.
Auf einem Vormittagsspaziergang hatte ich am 22. Oktober 1986 eine Schweinbacher Dorfbewohnerin gefragt, in welcher Richtung und von welcher Stelle aus die Frankenwaldberge Nord-Bayerns zu sehen seien. Diese Frage allein war der Auslöser für einen Alarm der Grenzsoldaten und Bereitschaftspolizisten von Saalfeld bis Lobenstein. Als wir zum Mittagessen wieder im Städtchen eintrafen, stand dieses unter Waffen. Es wurde die Beschreibung von zwei gesuchten Personen immer wieder über Lautsprecher eines Polizeiwagens den Bürgern mitgeteilt. Meine ehemaligen Schulkameraden sagten uns, dass Fahndungen nach „Grenzgängern“ in Leutenberg immer mal wieder vorkommen würden. Besucher der Saalfelder Feengrotten und des Moorbades Lobenstein schilderten den hohen Bewaffnungsgrad auf dem gesamten Streckenabschnitt. Dass meine Frau und ich die vermuteten „Grenzgänger“ waren, wurde uns erst am Abend bewusst, als wir von zwei Staatssicherheitsbeamten beim Abendessen im Ferienheim aufgespürt und voneinander getrennt ausgiebig verhört wurden. Das war eine sehr gefährliche Situation, denn die Stasi-Mitarbeiter hatten die Macht zu jeder beliebigen Definition, auch über alle Unklarheiten oder sogar über Wahrheiten hinweg.
Mit viel Glück entkamen wir damals den Folterkammern der Stasi und hatten das dem Umstand zu verdanken, dass meine Erklärungen zu Geburtsort, Eltern und Kindheit leicht nachprüfbar waren und schließlich als Spaziergangsmotiv akzeptiert wurden. Denn einer der beiden Stasis verlies während des Verhörs mehrfach den Raum, mit Sicherheit zwecks Überprüfung meiner Aussagen. Ich hatte u. a. mitgeteilt, dass ich als kleiner Junge unter größter Angst eine Nacht allein in unserem Leutenberger Holzhaus verbracht habe, weil meine Eltern hinter dem bewussten „Spazierberg“ im Bayrischen Ludwigstadt beim Einkauf von Bücklingen durch die Amerikaner festgenommen und erst am nächsten Morgen wieder freigelassen wurden. Die Nacht meiner Eltern im amerikanischen Knast fiel in die Zeit eines spritzigen Zonen-Marsches, der im westlichen Grenzgebiet der Sowjetischen Besatzungszone (später DDR) von vielen Menschen bis in die Zeit der durch Sowjetpanzer niedergewalzten ersten deutschen demokratischen Revolution (17. Juni 1953) häufig gesungen wurde. Text und Musik (im Buch zwei Notenzeilen) des Zonen-Marsches:
Tschia, tschia, tschia, tscho;
Käse gibt’s in der HO*;
Fische, die gibt’s hinter der Grenze.
Wenn Du hinkommst, gibt es nur noch Schwänze!

HO = Handelsorganisation; entsprach nach dem 2. Weltkrieg in der DDR den Exquisitläden der 80er Jahre, in denen es Mangelware (in der HO Grundnahrungsmittel) zu horrenden Preisen gab.

Meine Aussagen zu überprüfen bereitete der Stasi keine Schwierigkeiten, denn mein verstorbener Vater war als Musiker und Chorleiter in Leutenberg auch nach 40 Jahren noch sehr bekannt. Wenige Minuten nach dem Ende des Verhörs war Leutenberg wieder entmilitarisiert. Für den Rest unseres Urlaubs bekamen wir allerdings den damaligen Leutenberger Orts-Volkspolizisten, der auch „Abschnittsbevollmächtigter“ genannt wurde, als Begleitperson und ungewünschten Gesprächspartner an die Fersen geheftet. Es gab damals den Slogan: „Der Volkspolizist, Dein Freund und Helfer“. Mit hartnäckiger Aufdringlichkeit hat dieser „Freund und Helfer“ uns an den folgenden Tagen belanglose Gespräche, beispielsweise über die Sicherheit unseres Trabi auf dem Parkplatz, aufgezwungen und ist uns auf Spaziergängen im sichtbarem Abstand so nachgeschlichen, wie es jungen Paaren nur von Spannern im Wald bekannt ist. Unter diesen Umständen haben wir den Urlaub vorzeitig abgebrochen.
Nach Leipzig zurückgekehrt erhielten wir sofort einen Telefonanschluß, der zehn Jahre zuvor beantragt worden war und für den wir auf Nachfrage noch einen Monat vor dem gefährlichen Blick in die Freiheit eine schriftliche Absage aus Kapazitätsgründen erhalten hatten.

Seite 36:
… Der LVB-Bus-Verstärkungsdienst zum 1. Mai war wegen des erhöhten Lohnes (Feiertagszuschlag) und der verkürzten Arbeitszeit (demonstriert wurde nur halbtags) bei den Busfahrern sehr beliebt. Die Spannung auf der Oberleitung der Straßenbahn musste aus Sicherheitsgründen auch über dem Bahnhofsvorplatz abgeschaltet werden. Auch nach der Demo sollte ein Fahnenträger, der im Überschwang der siegreichen Gefühle mit dem metallischen Sowjetstern an der Spitze der Fahnenstange die Stromleitung berühren konnte, nicht in Gefahr kommen. Als kurz vor dem Ende des mehrstündigen Demonstrationszuges mein Bus wieder brechend voll war, wurde eine Gruppe aufgepuschter mitteljähriger Damen durch die Fahrgastmenge zwischen den Schaltknüppel und die Fahrertür des Gelenkbusses gedrängt. Das erotikfreie Schalten während der Fahrt aus der Leipziger Innenstadt in Richtung Paunsdorf war demzufolge nicht unproblematisch, denn die weiten sommerlichen Röcke der intensiv schwadronierenden Damen tangierten nicht nur den Knüppel; sie ließen diesen sogar teilweise verschwinden. Zunächst kontrollierte ich während der Fahrt mehrfach die aufgelockert intelligenten Gesichter der Damen und leistete mir erst danach mit lauten Worten die finanziell nicht ungefährliche Frage: „Waren die Damen nicht schon einmal vor zwei Stunden in meinem Bus; die erfolgreichsten emanzipierten Frauen dürfen wohl heute zweimal an der Ehrentribüne vorbeilaufen?“ Nach einer Sekunde Totenstille war zu meinem Glück im Bus das Gaudi groß!

Seite 53
… Einen wahrhaftigen Technologieschock bekam ich an der Tankstelle beim Luftaufpumpen der Reifen meines Trabis. Der außergewöhnlich kurze Luftschlauch hatte mich veranlasst, bis dicht vor eine Glasscheibe zu fahren, um das Ventil des Autoreifens in erreichbare Position zu bringen. Ich konnte einfach nicht ahnen, dass in dieser hochtechnologischen Welt im wahrsten Sinn des Wortes “die Luft aus der Kanne kommt”. Einen analog schweren Technologieschock hatte in der Zivilisationsgeschichte nur noch der sowjetische Besatzungssoldat, der 45 Jahre zuvor in Thüringen in unserer Wohnung am Toilettenstrick zog und, als daraufhin das Wasser durch das Becken rauschte, überrascht feststellte:
“Deutschland - alles elektrisch!”
Während der Besatzungssoldat 1945 in Thüringen saß, stand ich als DDR-Deutscher 1990 in Niedersachsen und zwar in Hannover vor dem Pissoir, zog exakt 45 Jahre nach dem Sowjet-Russen nicht an einem Strick und drückte auch nicht auf einen Knopf. Als plötzlich trotzdem das Wasser durch das Becken rauschte, da erschrak ich dem Russen gleich mit dem erlösenden Gedanken:
„Westdeutschland - alles elektrisch!“

Seite 82
… Allein in den Schulen wird die deutsche Zukunft heute total vertan. Im Millenium-Jahr stand ich unrasiert und nach einer Holzaktion ungewaschen an einem S-Bahn-Haltepunkt im Leipziger Umland, um meine Frau zur weiteren gemeinsamen Arbeit in unser Wochenendgrundstück zu holen. Die S-Bahn hatte Verspätung. Gemeinsam mit mir warteten rauchend und fröhlich über Schule schwatzend zwei Mädchen im Alter von 16 bis 17 Jahren. Mir war klar, von diesen beiden werde ich nur akzeptiert, wenn mein erster Satz treffsicher und interessant ist. Ich sagte: „Zieht nur mal ordentlich eine rein, ohne Zigaretten ist doch Schule heutzutage nicht mehr auszuhalten!“ Die Mädchen interessiert: „Ja, woher wissen Sie denn das; das müssen Sie mal unseren Eltern sagen, die wissen das nicht.“ Nach wenigen akzeptierten Worten konnte ich auf mein Interessengebiet zu sprechen kommen: „Was macht Ihr denn so auf Euerem Gymnasium?“ Nachdem keine Antwort kam, konkretisierte ich: „Was macht Ihr gegenwärtig in Mathematik?“ Die mürrische Antwort: „Na x und y.“ Wieder ich: „Was, so ein Scheiß!“ Ein Mädchen begeistert: „Woher wissen Sie denn das, das müssen Sie meinem Vater erzählen, der versteht das nicht!“ Ich pirschte mich langsam an den Kern meiner Neugier heran: „Und was macht Ihr noch im Fach Mathematik?“ Das andere Mädchen: „Na, Pyramiden!“ Ich wollte wieder punkten und antwortete nochmals: „So ein Scheiß!“ Da widersprach das Mädchen und erklärte mir, dass dies für sie wichtig sei. Denn einerseits wolle sie nach dem Abitur Architektur studieren, da seien Pyramiden wichtig, und andererseits reist sie demnächst mit dem Opa nach Ägypten, wofür das Wissen über Pyramiden auch günstig sei. Ich wertete meinen letzten Satz als eigenen Irrtum und kam so unbemerkt zum Kernpunkt: „Habt Ihr auf Euerem Gymnasium auch schon einmal 1/2 + 1/3 gerechnet?“ Beide Mädchen sofort unisono: „Das geht nicht!“ Ich hielt dagegen: „Doch, das geht!“ Die Mädchen standfest: „Nein, das geht nicht!“



Die beiden Gymnasiastinnen hatten mich als Gesprächspartner jetzt voll akzeptiert. So konnte ich mir erlauben, ohne Tafel und Kreide einen beschwerlich anschaulichen - vom abstrakten Denken waren diese beiden jungen Damen meilenweit entfernt - kurzen Lehrprozess zu beginnen. Ich erzählte von zwei gleichgroßen Kuchen und einem leeren Kuchenblech. Nachdem wir einen Kuchen gedanklich halbiert und eine Hälfte auf das leere Blech gebracht hatten, wurde der zweite Kuchen mit Hilfe des Mercedes-Sterns wiederum gedanklich in drei gleichgroße Teile zerlegt. Davon kam ein Teil auf das ursprünglich leere Blech zu der bereits abgelegten Kuchenhälfte. In diesem Gedankenmoment formulierte eines der beiden Mädchen erfolgreich mitdenkend: „Es muss doch irgendwie gehen!“ Da nahte der Zug in der Ferne und ich hatte im Verabschieden nur noch die Möglichkeit, eine letzte brisante Frage zu stellen: „Wie kommt Ihr denn mit Euerem Mathe-Lehrer zurecht?“ Mit der abschließenden Antwort „Eigentlich ganz gut, da gibt es Schlimmere“ verraten die Mädchen, dass es an ihrem Gymnasium auch noch Lehrer gibt, die sich um konkrete Lernarbeit der Schüler bemühen. …
Die Physikstunde – wenn diese überhaupt stattfindet – steht oftmals unter dem Motto „Macht Watt Ihr Volt!“. Und „kein Schwein“ interessiert sich für den in Rechnung gestellten angeblichen „Stromverbrauch“, obwohl doch der Strom mit der Stromstärke von beispielsweise 10 Ampere in die Wohnung hinein und ebenso wieder heraus fließt. So eine „Abzocke“; soll doch der Nächste die 10 A wieder verwenden! Oder?

Seite 87
… Auch in der DDR begann in den 70er Jahren das Leistungsniveau an Schulen und Hochschulen zu fallen; wurde insbesondere von politischen Sonderauflagen zersetzt. An der Hochschule für Bauwesen in Leipzig musste das Promotionsverfahren eines SED-Genossen in der Endphase abgebrochen werden, weil der Doktorand „der deutschen Schriftsprache nicht mächtig“ war. Ich habe an der Leipziger Ingenieurschule für Bauwesen die Physik-Belegarbeit eines Studenten aus einer Armee-Sonderklasse, der das Fach Deutsch bei einer SED-Dozentin problemfrei erfolgreich abgeschlossen hatte, nur auf Rechtschreibfehler korrigiert und das „Desaster in Rot“ dem vorgesetzten Fachrichtungsleiter vorgelegt. Der mir übergeordnete SED-Genosse kritisierte zunächst die Tat und verwies auf meine alleinige Aufgabe, den physikalischen Inhalt. Auf die Frage, wie solch ein Ingenieur später erfolgreich arbeiten soll, bekam ich den kurzen Hinweis „…mit dem Vermerk in der Kaderakte, mehr für operative Fragen geeignet…“ und wurde aus dem Zimmer des „hohen Herrn“ hinauskomplimentiert. Seine parteipolitische Lösung war: Gebt diesem SED-Ingenieur ein Telefon und kein Papier!
Der Russisch-Lehrer war zur damaligen Zeit ein Muttersprachler, der in seiner Not die Zensurenskala im persönlichen Notizbuch linear bis zur Note 10 verlängert hatte. Er fand manchmal beim Korrigieren nur Fehlerzahlen oberhalb der ehemals schlechtesten Note 5 (nicht bestanden). Offiziell konnte er natürlich von 5 bis 10 immer nur die Note 5 in die Klassenbücher eintragen. Aber auf die Frage eines leistungsschwachen Fernstudenten nach seinen Erfolgsaussichten schaute der Dozent in ein privates Büchlein und sagte mit russischem Akzent: „Sie haben sich von 9 auf 7 entwickelt; wenn Sie so weiter arbeiten, können Sie am Ende noch 4 erreichen!“

Seite 98
… Wessis und Ossis haben in den 90er Jahren in ihrer gesellschaftspolitischen Empfindung eine Analogie der obligaten 3 Phasen des dauerhaften Zusammenlebens von Mann und Frau erlebt: Die herrliche Faszinationsphase, die immer zeitlich sehr begrenzt ist; die streitintensive Umerziehungsphase, die immer zum Scheitern verurteilt ist, und die gestaltungsfähige Drangewöhnungsphase, die durch gemeinsame Bemühungen sehr erfolgreich sein kann. …
… Der BRD-Kapitalismus ohne Ausbeutungscharakter und mit vielen Sozialleistungen wurde von der DDR-Bevölkerung bestaunt und ersehnt. Jetzt ist er in der Globalisierung und parallel zur Abwendung der Menschen von den klassischen Moralnormen aus seinen ethischen Schranken ausgebrochen: Bänker verkaufen Verluste oder verstaatlichen diese, Manager nehmen sich das Tausendfache eines Mitarbeiters aus der Betriebskasse, Arbeitslöhne müssen durch soziale Stützen aufgestockt werden. Wenn die politischen Gegenmaßnahmen erfolglos bleiben, dann ist der ausbeutungsfreie Kapitalismus in freiheitlicher Demokratie temporär am Ende und wird durch schrankenlosen Kapitalismus, eingebettet in eine Diktatur der Moral nach chinesischem Muster, abgelöst werden. Zum Kapitalismus gibt es keine Alternative, denn allein das im Sozialismus fundamentale „Volkseigentum“ führt a priori in den wirtschaftlichen Ruin.

Seite100
… Auch wenn wir heute von allen demokratischen Parteien enttäuscht sind, gehen wir um Himmels Willen zur Wahl! Jeder möge für sich „das kleinste Übel“ auswählen. Denn wir wollen nie wieder Hochrüstung, Krieg und Faschismus, aber auch nie wieder eine kommunistische Diktatur, in der das Lied „Die Gedanken sind frei“ verboten war und die Menschen singen (und leben) mussten:
Die Partei, die Partei, die hat immer Recht!
Und Genossen, es bleibe dabei …
So aus Leninschem Geist wächst von Stalin geschweißt
Die Partei, die Partei, die Partei!

Abschließender Hinweis:

Wollen Sie die Verschenkung des Buches an Bibliotheken und Schulen und die vom Autor realisierten Zeitzeugengespräche zwecks Stabilisierung unserer Demokratie unterstützen, dann bitte unter www.osirisdruck.de Kontakt aufnehmen.